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Corona App ohne die Hauptrisikogruppe? Für ein Sofortprogramm Digitale Teilhabe älterer Menschen

Mitte Juni soll nun die Corona App kommen. Davon versprechen sich viele einen wichtigen Beitrag zur Eindämmung der Epidemie und Erleichterungen im Alltag. Doch stell Dir vor, die Hauptrisikogruppe nimmt nicht teil! Es wird damit gerechnet, dass ein Teil der Bevölkerung nicht teilnehmen will, obwohl er könnte. Aber man hört nichts darüber, dass Millionen, die sich und andere schützen möchten, gar nicht mitmachen können, weil sie kein Smartphone haben oder damit nur telefonieren und keine Apps nutzen können. Rund die Hälfte Männer und Frauen über 70 Jahre, in absoluten Zahlen rund sieben Millionen, waren noch nie im Internet. Bei den Hochaltrigen ab 80 Jahre liegt der Anteil der Offliner bei rund 80%, auf Bremen umgerechnet sind es mindestens 50.000 Menschen über 70 und 30.000 über 80 Jahre. Dies führt zu der paradoxen Situation, dass diejenigen die altersbedingt zur Hochrisikogruppe gehören, weder individuellen Nutzen aus der App ziehen, noch zum kollektiven Nutzen beitragen können. Die App soll ja durch die Verfolgung von Infektionsketten nicht nur das Infektionsrisiko für uns alle mindern und die Verbreitung eindämmen, sondern damit gleichzeitig auch jedem Einzelnen wieder etwas mehr Sicherheit bei der Teilhabe am sozialen Leben ermöglichen.

 

Nachdem erkannt wurde, dass keineswegs alle Eltern schulpflichtiger Kinder diesen ein Tablet oder Notebook finanzieren und die laufenden monatlichen Kosten für eine Internetflatrate tragen können, wurde ein Sofortprogramm für Digitale Lernmittel zusätzlich zum Digitalpakt für Schulen von Bund und Ländern aufgelegt (WK vom 3. Juni: 10.000 Tablets für Bremer Schüler). Angesichts verbreiteter Altersarmut sind viele ältere Menschen noch weit mehr auf Unterstützung bei der digitalen Teilhabe angewiesen. Neben einem Sofortprogramm für digitale Lernmittel ist daher ein Sofortprogramm für digitale Teilhabe älterer Menschen, z.B. im Rahmen der Altenhilfe (§ 71 SGB XII) dringend geboten.

 

Bisher war in diesem Zusammenhang zumeist von der Förderung von Tablets die Rede, weil sie größere Bildschirme haben als Smartphones. Angesichts der Corona-App sollte sich der Schwerpunkt aktuell auf die Förderung größerer Smartphones konzentrieren, die in eine Hand- oder Einkaufstasche passen. Denn das Tablet zu Hause nützt hier nichts. Dabei ist es nicht mit einer einmaligen Hilfe zur Anschaffung eines Smartphones getan. Viele können auch die laufenden Kosten für eine Internetflatrate nicht tragen. Im Warenkorb für Hartz IV und wirtschaftliche Hilfen bei der Grundsicherung sind aktuell 38,62 Euro pro Monat für Nachrichtenübermittlung vorgesehen. Wer in einem Heim lebt und die Kosten der Unterbringung und Pflege vom Sozialamt übernommen werden, bekommt einen monatlichen Barbetrag (früher Taschengeld) von aktuell ca. 100 Euro. Davon sollen alle persönlichen Bedürfnisse, inklusive Zuzahlung zu Medikamenten und Geschenken zum Geburtstag von Angehörigen bezahlt werden. In einem Sofortprogramm können Smartphones mit einem Prepaid-Guthaben an Bedürftige gegeben werden. Nachhaltig wäre jedoch ein Digitalzuschlag auf die Regelsätze. 

 

Geräte und Netzzugang sind nur eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingungen für digitale Teilhabe. Wir wissen aus einer Reihe von Pilotprojekten, auch hier in Bremen, dass mit zunehmendem Alter eine einmalige Einweisung in die Nutzung von Internetdiensten und Apps zumeist nicht zur selbständigen Nutzung führt. Immer wieder entstehen Situationen, wo Hilfe nötig ist, um eine Anwendung zu starten oder wenn man sich verklickt hat. Daher braucht eine Corona App nicht nur gezielte Einweisungen, sondern auch einen dauerhaften und gut erreichbaren Support in Form physischer Sprechstunden und telefonischer Hotlines.

 

Bei der Gelegenheit ist dann auch ein unverzeihliches Versäumnis zu beheben: In der Zeit der maximalen Kontaktbeschränkungen konnten viele ältere Menschen in ihrer Einsamkeit und mit ihren Ängsten ihre Angehörigen auch nicht ersatzweise per Videokommunikation sehen. Da es auf absehbare Zeit weiter gewisse Beschränkungen geben wird und viele Ältere zu Recht auch vorsichtig bis ängstlich in Bezug auf Besuche sind, ist eine Kombination mit der Einweisung in und Unterstützung bei Videokommunikationsdiensten dringend geboten. Die Stiftung Warentest hat gerade - zum ersten Mal unentgeltlich - einen Test verschiedener Dienste ins Netz gestellt, auf den sich die Unterstützer stützen können.

 

Der Bremer Senat hatte im Herbst 2019 in seinem Koalitionsvertrag angekündigt, zur Überwindung der Alterslücke Digitalambulanzen zu fördern. Hieran sollte nun schnellstmöglich angeknüpft werden. Bremen braucht ein Unterstützungsangebot für ältere Menschen im Umgang mit digitalen Medien, damit auch die Hauptrisikogruppe von einer Corona-App profitieren kann. Wir stehen derzeit vor dem Dilemma, dass im Juni die App kommen soll, es aber für Teile der Bevölkerung keine Unterstützungsangebote gibt, wie sie diese App nutzen können bzw. dazu befähigt werden. Hier sollte der Senat, vor allem über das Gesundheits- und Sozialressort, die erforderlichen Angebote ins Leben rufen, damit die Chancen der Corona-App und der digitalen Kommunikation nicht verspielt werden und es in einigen Wochen nicht heißt „Wir hätten ja gerne, aber wir konnten nicht und niemand hat uns geholfen“.

 

Siehe auch das Interview bei Buten und Binnen online.



Partizipation und Teilhabe