Heute ist im Weser Kurier ein Gastbeitrag von mir erschienen, den ich als Reaktion auf einen Beitrag vom 15. Februar geschrieben habe, in dem für eine Beschleunigung der Digitalisierung im Gesundheitswesen plädiert wurde. Für den Abdruck musste der Text auf die Hälfte gekürzt werden. Hier ist die vollständige Fassung:
Von der Digitalisierung des Gesundheitswesens in Form der Telemedizin mit Videosprechstunden, elektronischen Rezepten, der elektronischen Patientenakten, vielfältigen Apps der Kassen und anderer Anbieter erhofft sich die Politik sowohl Einsparungen als auch eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung gerade auch in den problematischen ländlichen Regionen. Zu Recht wird dabei ein hohes Niveau des Datenschutzes und der Datensicherheit sowie eine angemessene Qualitätskontrolle gefordert. Doch die Rechnung wird zwar nicht ohne den Wirt, aber ohne hinreichende Beschäftigung mit den Gästen gemacht. Anders als bei den Sozialen Medien handelt es sich hier nicht um eine nutzer- und nachfragegetriebene Entwicklung, sondern um eine angebotsorientierte. In den Statistiken der Internetnutzung nach Themen rangieren die genannten Anwendungen weitgehend auf den hinteren Rängen. Gesundheits-Apps sind zwar bei einem Teil der jüngeren Bevölkerung beliebt, spielen jedoch bei Senioren kaum eine Rolle.
Bereits der technische Zugang zu digitalen Medien ist extrem unterschiedlich zwischen den Altersgruppen verteilt. Während die jüngere Bevölkerung zu fast 100 Prozent digital unterwegs ist, ist der Anteil der Onliner in den höheren Altersgruppen deutlich geringer: Je höher das Alter, umso größer der Anteil der Offliner, also der Personen, die noch nie das Internet genutzt haben: Bei den 60 bis 65-Jährigen liegt er bei rund 30 Prozent, bei den über 80-Jährigen jedoch bei rund 80 Prozent. Das heißt, in dieser Altersgruppe, die wegen eingeschränkter Mobilität z. B. am meisten von Telemedizin profitieren könnte, sind bei acht von zehn Personen die technischen Voraussetzungen nicht gegeben. Und das hat nichts mit der lückenhaften Breitbandversorgung zu tun, sondern ist ein Motivations- und Kompetenzproblem.
Im hier diskutierten Kontext ist die simple Unterscheidung zwischen Onlinern und Offlinern zwischen Nutzern und Nicht-Nutzern zudem zu grob. Eigene Studien zur Internetnutzung älterer Menschen haben einen deutlichen Unterschied zwischen niedrig- und höherschwelligen Anwendungen erkennen lassen. Die höherschwelligen werden von deutlich weniger Personen genutzt als die niedrigschwelligen. Der wichtigste Unterschied besteht darin, dass man sich bei ihnen nicht nur einmal mit persönlichen Daten registrieren muss, sondern bei jeder Nutzung (jedem Login) mit einem Passwort authentifizieren muss. Dieses Passwort soll sicher sein, Groß- und Kleinbuchstaben, Sonderzeichen und Ziffern beinhalten, und man soll es nicht aufschreiben. – Was macht man im höheren Alter, wenn man seinem Gedächtnis nicht mehr traut? – Viele verzichten auf diese digitalen Anwendungen, solange es noch analoge Alternativen gibt. Dies zeigt sich bei der Nutzung des Online-Banking und Online-Shopping durch ältere Menschen. Viele Anwendungen zur gesundheitlichen Versorgung sind damit gut vergleichbar und werden auf ähnliche Zurückhaltung in der älteren Bevölkerung stoßen.
Neben dieser Unsicherheit in Bezug auf die Sicherheit der eigenen Daten besteht das Problem, dass sich viele ältere Menschen keinen Nutzen von digitalen Anwendungen erhoffen und ihn sich auch nicht vorstellen können. Digitale Medien sind Erfahrungsgüter. Man muss sie nutzen, um ihren Nutzer erkennen zu können, dazu aber in ein Gerät und einen Vertrag investieren. Wer keinen Nutzen erwartet, wird diese Investition in Zeit und Geld nicht tätigen.
Zwar wird allseits betont, dass alle Bevölkerungsschichten digitale Kompetenzen erwerben sollen. Aber man hört wenig speziell in Bezug auf die ältere Bevölkerung. Wir erleben gerade einen milliardenschweren Pakt zur Förderung digitaler Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern. Auch für die Förderung digitaler Kompetenzen in der beruflichen Bildung wird viel unternommen. Trotz des hohen Anteils der Offliner in der älteren Bevölkerung und angesichts deren Zunahme im Zuge des demographischen Wandels wird bisher deutlich weniger für die Förderung digitaler Kompetenzen älterer Menschen und niedrigschwellige Erfahrungsmöglichkeiten getan.
Das mag auch daran liegen, dass im Gegensatz zur schulischen und beruflichen Bildung die Erwachsenenbildung und hier speziell die der Senioren weniger klar organisiert ist und sich zudem gerade für digitale Kompetenzen von älteren Menschen etwa Kurse von Volkshochschulen nur bedingt bewährt haben. Erfolgreicher sind Formen des informellen Lernens, des Coachings, von Sprechstunden und ähnlichen Formaten. Ein konkreterer Ansatzpunkt könnte darin bestehen, dass die Leistungsträger im Gesundheitswesen, vor allem wohl die Kassen, mit politischer Unterstützung und öffentlicher Förderung ihre Kunden bzw. Patienten in die Lage versetzen, die Vorteile digitaler Angeboten erkennen und diese dann auch sowohl technisch als fachlich kompetent nutzen zu können. Dazu sind u. a. stationäre und – in den ländlichen Regionen – mobile Living Labs geeignet, in denen szenarienbasiert Anwendungen gezeigt und probeweise genutzt werden können. Denn ohne Motivierung und Qualifizierung der Nutzerinnen und Nutzer kann weder die erhoffte Kostensenkung noch die angestrebte Verbesserung der Versorgung erreicht werden.