In meinem Gastbeitrag im Blog von Jan-Martin Wiarda unter dem Titel "Schluss mit den Scheingefechten" habe ich die immer wieder aufkommende Diskussion zwischen Medienbildung und Informatik zum Anlass genommen, auch die ständig wiederkehrende Vermischung der Bereiche zu thematisieren.
"Ich finde das ärgerlich. Zwei Fächer streiten sich öffentlichkeitswirksam. Es geht um die Deutungshoheit bei einem Thema, das so groß, so bedeutend und relevant ist, dass der Ärger eigentlich vollkommen überflüssig ist. Weil wir die Perspektiven beider Fächer dringend brauchen. Was mich noch mehr ärgert: Politiker*innen und Journalist*innen sekundieren den Streitparteien, je nach Sympathie für die eine oder andere Mannschaft, heizen dadurch den unnötigen Konflikt weiter an und vermischen nebenbei häufig noch die Inhalte.
Ich rede von der Informatik, der Erklärungs- und Gestaltungswissenschaft für die Welt von morgen. Gegründet in den 1950er Jahren (unter dem Namen "Künstliche Intelligenz" auf der legendären Dartmouth-Konferenz), in den 1970er Jahren als Disziplin an deutschen Universitäten etabliert, befindet sie sich derzeit im Allzeit-Hoch.
Auf der anderen Seite steht die Medienbildung und die Medienpädagogik, die den in den 1980er Jahren entstandenen Begriff der Medienkompetenz geprägt hat. Dies erfolgte in einer Zeit, als Fernsehen das Leitmedium war und die Auseinandersetzung um den privaten Rundfunk begann. Die Medienpädagogik stellte damals die "kommunikative Kompetenz" (Dieter Baacke) in einer von Medien geprägten Gesellschaft zur Debatte. Klingt bis heute modern, ist es auch: Die Konzepte der Medienpädagogik wurde in den vergangenen 30 Jahren immer wieder verfeinert und aktualisiert.
Befinden sich beide Disziplinen in einer Konkurrenzsituation? Ich kann keine sehen. Alle sind sich einig, dass wir in einer Welt leben, die von Medien geprägt ist, die ihrerseits zunehmend digitalisiert sind und alle Lebens- und Arbeitswelten erfassen.
Um eine gleichberechtigte Teilhabe zu ermöglichen, sind veränderte und neue Kompetenzen erforderlich, die alle erwerben müssten - zuvorderst in Bildungseinrichtungen von der Kita über Schule und Hochschulen bis hin zur betrieblichen Bildung und zur Weiterbildung. Aber wer bestimmt diese neuen Kompetenzen? Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat mit einem großen Wurf sechs notwendige Kompetenzen für die Bildung in einer digitalen Welt definiert und als Strategiepapier verabschiedet. Alle Länder haben sich verpflichtet, dass Schüler*innen bis zum Ende ihrer Regelschulzeit diese Kompetenzen erworben haben müssen. Diese Selbstverpflichtung wurde zu einer Grundlage des DigitalPakt Schule, der zwischen Bund und Ländern vereinbart wurde und seit diesem Jahr die IT-Infrastruktur in Schulen stärken soll. Für die finanzschwachen Kommunen ein temporärer Geldsegen und aufgrund der schultechnologischen Rückständigkeit im Vergleich zu anderen Industriestaaten eine zwingende Notwendigkeit. Schulen benötigen eine zeitgemäße IT-Basisinfrastruktur wie Gas, Wasser oder Strom, denn es kommt auch niemand auf die Idee, Schulen sollten sie selbst erzeugen.
Mittlerweile wissen aber (fast) alle, dass eine gute IT-Ausstattung nicht automatisch zu gutem Lernen und Lehren führt. Neben Strukturen und Prozessen für den IT-Support und für die pädagogische Beratung braucht es Inhalte und einen Orientierungsrahmen, was denn eigentlich gelernt werden soll. Und genau an der Stelle geraten Informatik und Medienpädagogik in einen Scheinkonflikt. Oder werden von interessierter Seite in einen solchen hineingedrängt. Es ist auch die Stelle, an der in der öffentlichen Debatte einiges durcheinander geworfen wird. Erst jüngst wieder in einem lesenswerten Beitrag in der ZEIT (hinter Paywall).
Also der Reihe nach: Die Informatik geht davon aus, dass es in der Schule ein eigenes Fach geben muss, in dem Schüler*innen algorithmischen Kompetenzen (Bildungsexpert*innen nennen dies auch "Computational Thinking") erwerben und dazu auch die handwerklichen Tätigkeiten des Programmierens erlernen. Dies, so argumentiert die Informatik, sei unabdingbar für die "digitale Mündigkeit" der Schüler*innen, etwa wenn es darum geht, die Funktionslogiken der Künstlichen Intelligenz zu verstehen. Einige argumentieren zusätzlich, hier gehe es um die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.
Ein wichtiger Bestandteil der Informatik und ihrer Fachdidaktik war schon immer der Bereich "Informatik und Gesellschaft" wie er in den Leitlinien der Gesellschaft für Informatik beschrieben. Hier finden sich die offensichtlichsten Berührungspunkte mit der Medienbildung, denn die Informatikdidaktik hebt ebenfalls auf kritisch-reflexive Kompetenzen analog zur Medienkompetenz ab. So strahlt die Informatik in andere Fächer aus, auch und vor allem in die Medienpädagogik, aber warum wollen manche dies unbedingt als Konkurrenz sehen und nicht als Brücke zwischen den Disziplinen bzw. vermischen sie?
Die Medienpädagogik und die Medienbildung hatten ihre Hochphase immer dann, wenn gesellschaftliche Probleme wie Cybermobbing oder der Zusammenhang zwischen Gewalt in Computerspiele und Amokläufen zum Debattenthema wurde. Das wird auch künftig so bleiben, denn die Medienpädagogik bietet eine Perspektive, die um 180 Grad gedreht und damit komplementär ist zu der in der Informatik. Sie will Menschen in die Lage versetzen, eigenständig und selbstbewusst zu agieren in einer von (digitalen) Medien geprägten Welt.
Dazu gehören selbstverständlich auch die Funktionsweise von Computern und ihre Programmierung (Gestaltung), die Bedeutung von Künstlicher Intelligenz, die Wirkungsmacht kommerzieller Suchmaschinenanbieter und vieles mehr. Aber nicht in der Tiefe und wissenschaftlichen Verankerung der Informatik.
Jede Perspektive, die der Informatik und die der Medienpädagogik, ist für sich allein wichtig und zugleich verkürzt. Erst in ihrer Verschränkung erreichen sie ihre volle Deutungshoheit.
Die Schweiz macht es vor: Mit dem Lehrplan21 wurde 2017 das Fach "Medien und Informatik" eingeführt. Das Konzept einer Verschränkung ist also da, inwieweit es in den Schulen nachhaltig verankert wird und die erhofften Wirkungen zeigt, bleibt abzuwarten.
Doch auch in der Schweiz ist mit der Einführung des neuen Schulfaches eine andere zentrale Frage noch unbeantwortet: die Frage nach der Bedeutung digitaler Medien für den Fachunterricht. Also das Lernen und Lehren mit digitalen Medien. Es ist der dritte Punkt, der oft außer Acht gelassen wird, bei dem noch dazu einiges durcheinanderläuft in der öffentlichen Diskussion: Medienkompetenz, so sie erworben wurde, bedeutet nicht automatisch, dass digitale Medien im Fachunterricht kompetent eingesetzt werden – weder von Lehrkräften noch von Schüler*innen. Auch die Informatik als Fach kann hierbei nicht helfen.
Alle Erkenntnisse, die wir haben, deuten darauf hin, dass alles drei sein muss. Es braucht ein Fach Informatik im Kanon der Fächer in den Schulen, mindestens ab der Mittelstufe. Es braucht auch die Medienbildung als Querschnitt in allen Fächern und nicht nur in einem Fach "Medienkompetenz" wie gerade vom Bundeskriminalamt gefordert. Sie muss verpflichtend für alle Schüler*innen in allen Schulstufen werden. Und es braucht drittens und ebenfalls für alle Fächer Festlegungen, um digitale Medien pädagogisch-didaktisch sinnvoll in den Unterricht zu integrieren.
Erst wenn der überflüssige Streit um die Deutungshoheit endet, bleibt in unserem Bildungssystem Zeit für die eigentliche Herausforderung. Sie besteht darin, die Lehrkräfte so auszubilden und weiterzubilden, dass sie wirklich medienpädagogisch kompetent werden, fachdidaktisch versiert, fachwissenschaftlich qualifiziert und interdisziplinär geschult. Das ist schwer genug in einer Zeit, in der der Konkurrenz um solche Personen groß ist, in der Informatik, in der Medienpädagogik, eigentlich in allen Fächern. Machen wir es uns mit Scheingefechten nicht noch schwerer."