Anlässlich der Diskussion über die VDI Richtlinie 7000 "Frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung bei Industrie- und Infrastrukturprojekten" habe ich in zwei vorangegangenen Kommentaren argumentiert, dass dort zu hohe Erwartungen im Hinblick auf die Gewinnung von Akzeptanz geweckt werden. Dabei stützte ich mich auf die Erfahrungen bei der Evaluation der Bürgerbeteiligung an zwei Fernstraßenprojekten. Eine frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung bei großen Infrastrukturprojekten kann Bürgerinitiativen nicht von Klagen gegen ein Vorhaben abhalten. Und in den für Großprojekte typischen mehrstufigen Genehmigungsverfahren wird in den späteren Phasen die Legitimation der vorangegangenen Entscheidungen oft nicht anerkannt, sondern die Ermittlung des Bedarfs und die Auswahl einer Vorzugsvariante erneut gefordert. In diesem Beitrag möchte ich auf ein drittes strukturelles Problem hinweisen, das bei Bürgerentscheiden und Bürgerbefragungen besteht. In der Richtlinie ist von dem Ziel die Rede, "Bürgerinnen und Bürgern einen informierten, individuellen Entscheid zu ermöglichen und so den Konflikt verbindlich zu lösen" (S. 90). Das hat auch das Verkehrsministerium in Mecklenburg-Vorpommern geglaubt, als es die Bürgerinnen und Bürger von Waren an der Müritz darüber abstimmen ließ, ob die B 51 statt weiter durch den Ort um den Ort herum geführt werden soll und der Bau einer Ortsumgehung zum Bundesverkehrswegeplan angemeldet werden soll.
In meinem Evaluationsbericht wird dargelegt, dass trotz optimaler Bürgerinformation und einem klaren Votum, das Hauptproblem der vom Durchgangsverkehr betroffenen und belasteten Bürgerinnen und Bürger nicht gelöst wurde und der seit Jahren bestehende Konflikt fortbesteht. Und dies liegt nach meiner Überzeugung daran, dass bei Bürgervoten zu Infrastrukturprojekten lokal die negative Betroffenheit überwiegt, während der Nutzen überregional zu verzeichnen ist und die positiv Betroffenen schwieriger zu identifizieren und zu beteiligen sind.
Diesem Phänomen wird mit man mit der Etikettierung der Gegner vor Ort als NIMBY (Not In My Back Yard) nicht gerecht. Es handelt sich vielmehr um eine strukturell bedingte Asymmetrie. Ganz offensichtlich ist dies beim Ausbau der Stromnetze. Wenn man auf der langen Strecke von der Nordsee bis Bayern die dort wohnenden Bürgerinnen und Bürger über die einzelnen Bauabschnitte mit neuen Strommasten abstimme ließe, kann man hohe Wetten auf ein negatives Ergebnis abschließen. Und es gibt in einer kapitalistischen Gesellschaft, die den Eigennutz zum Katalysator für gesellschaftlichen Wohlstand erklärt, keinen Grund zu der Annahme, dass hier plötzlich großer Altruismus oder Solidarität der Menschen in Niedersachsen und Hessen mit denen in Bayern überwiegen würde.
Diese Asymmetrie bei der Verteilung von Kosten und Nutzen war nach meiner Überzeugung der Hauptgrund für den negativen Ausgang des Bürgervotums in Waren. Zusammen mit der Bundestagswahl 2013 haben 57% der Wahlberechtigten dort an dem Bürgervotum teilgenommen und 59,7 % gegen die Anmeldung einer Ortsumgehung zum Bundesverkehrswegeplan gestimmt. Diejenigen, die den größten Nutzen von einer solchen Ortsumgehung hätten, die überregionalen Verkehrsteilnehmer, die nicht mehr im Stau stehen müssen, durften nicht mit abstimmen. Bei den Warenern selbst waren vor allem die Anwohner an dieser einen Bundesstrasse für eine Ortsumgehung, weil sie eine Entlastung von Lärm und Feinstaub erwarteten. Einige standen selbst öfter in den Staus oder hatten Mitleid mit den Anwohnern, aber mehr Einwohner waren dagegen, weil die aus verkehrlichen Gründen effektivsten Trassen ein Naherholungsgebiet zerschneiden und einen tiefen Eingriff in ein Naturschutzgebiet bedeuten würden. Außerdem mag bei einigen Anwohnern der diskutierten Trassen auch die erwartete zusätzliche Verkehrsbelastung zu einem Nein geführt haben.
In diesem konkreten Fall kommen noch zwei Schwierigkeiten hinzu. Aus planungsrechtlichen Gründen durften die Bürgerinnen und Bürger nicht für eine der sechs in Erwägung gezogenen Varianten, sondern nur über das "ob" einer Ortsumgehung abstimmen. Die Auswahl der konkreten Trasse muss dem Raumordungsverfahren vorbehalten bleiben, in dem nach vorgegebenen Kriterien und auf Gutachten gestützt ein Vergleich vorgenommen und eine oder wenige Vorzugstrasse(n) bestimmt werden. In einer frühen Phase ist es grundsätzlich gut, wenn viele Varianten diskutiert werden. So entsteht aber auch die Gefahr, dass bei einer Abstimmung zu einem so frühen Zeitpunkt der Kreis derer größer ist, die sich von einer dieser Varianten negativ betroffen fühlen.
Das zweite Problem dieser konkreten Abstimmungsfrage war, dass sie keine Lösungsperspektive für das lokale Lärmproblem der Anwohner an der Durchgangsstraße beinhaltete. Auf einer Abschlussveranstaltung warfen sie der Stadt und dem Ministerium vor, dass ihre amtlich anerkannten gesundheitlichen Belastungen nicht ernst genommen werden. Der Konflikt zwischen Ihnen und den übrigen Einwohnern besteht weiterhin und das Vertrauen in die Politik ist eher gesunken. Dies kann in diesem Fall sogar durch eine repräsentative Bevölkerungsumfrage belegt werden: 38% sind mit dem Ergebnis nicht zufrieden, 46% wollen sich weiter für eine Ortsumgehung einsetzen, 56 % sagen die Streitigkeiten werden weitergehen, 11% erwarten sogar eine Zunahme. Die von Ministerium erhoffte Befriedung wurde so nicht erreicht.[1]
Der Evaluationsbericht enthält weitere Daten und daraus abgeleitete Erkenntnisse und Empfehlungen. Die wichtigste ist, dass ein Bürgervotum vor allem dann eine akzeptanzfördernde Wirkung entfallen kann, wenn
- die Abstimmungsfrage mit der Problemsicht auf beiden Seiten übereinstimmt,
- der Kreis der Abstimmungsberechtigten dem der Betroffenen entspricht und
- wenn für beide möglichen Ergebnisse eine tragfähige Kompensation für die jeweiligen Verlierer vorbereitet wurde.
Bei großen überregionalen Infrastrukturprojekten ist das eher unwahrscheinlich.
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