Neben einer ganzen Reihe von Leitfäden für Bürgerbeteiligung hat nun auch der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) eine Handlungshilfe für das Management von Öffentlichkeitsbeteiligung in Form einer Richtlinie verabschiedet. Die VDI 7000 "Frühe Öffentlichkeitsbeteiligung bei Industrie- und Infrastrukturprojekten" wurde am vergangenen Montag auf einer öffentlichen Veranstaltung mit dem provokativen Titel "Können wir noch Großprojekte?" zur Diskussion gestellt Neben Bürgermeister Jens Böhrnsen und Umwelt- und Bausenator Joachim Lohse sowie den Verantwortlichen für mehrere Bremer Bauprojekte war ich zu einer Stellungnahme aus Sicht der Wissenschaft eingeladen.
Mit dem "wir" im Titel sind zunächst die Ingenieure gemeint, die Großprojekte nach Auffassung aller Redner nur noch erfolgreich machen können, wenn sie die Öffentlichkeit frühzeitig beteiligen. Dazu soll diese Richtlinie dienen. Mit dem "wir" sind aber auch wir alle, die Gesellschaft, gemeint, die es den Ingenieuren zunehmend schwieriger macht, ihre Projekte zum Erfolg zu bringen. Damit die Ingenieure erfolgreich beteiligen können, soll insgesamt eine verlässliche Planungs-und Dialogkultur entstehen, in der "jeder ein wenig über den Tellerrand schaut und eine Konsenssuche ernsthaft betreibt" (http://www.vdi.de/artikel/bremen-diskutiert-die-vdi-7000-bei-lokalen-grossprojekten/).
Die Richtlinie empfiehlt dazu ein Vorgehen in vier Stufen, vom internen Kompetenzaufbau beim Vorhabenträger über die strukturierte Beteiligung der Öffentlichkeit und die Unterstützung des Genehmigungsverfahrens bis zur Begleitung der Bauphase.
An der Diskussion darüber fiel zunächst auf, dass unterschiedliche Prozesse gemeint waren, wenn von "Beteiligung" die Rede war. In drei der vier Bremer Projekte (Hulsberg Viertel, IKEA-Standort Bremerhaven, Offshore Terminal Bremerhaven) ging es um Bürgerbeteiligung. Die Richtlinie bezieht sich jedoch auf Öffentlichkeitsbeteiligung, die in erster Linie durch Beteiligung der sogenannten Träger Öffentlicher Belange (TÖB) erfolgt. Dies war im vierten Beispiel, der Planung eines Abschnitts der A 281, der Fall.
Diese Beteiligung ist im Planungsrecht geregelt und muss nach jüngsten Änderungen "frühzeitig" durch die Vorhabenträger erfolgen. Der Unterschied zur Bürgerbeteiligung ist beträchtlich, wurde aber nicht näher analysiert. Vor allem bei den wirklich großen Infrastrukturprojekten wie Autobahnen, Bahnstrecken und Stromnetzen, die sich über viele Jahre in mehreren stufenweisen Genehmigungsverfahren erstrecken, wird die Dialogmöglichkeit und -fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger überschätzt und überfordert, während die professionellen TÖBs die Belange der Öffentlichkeit kontinuierlich vertreten können.
Man muss also eigentlich fragen, was bringt eine direkte Beteiligung nicht näher definierter Bürgerinnen und Bürger über die Beteiligung der TÖBs hinaus? Der Anlass ist klar: Es sind die Bürgerinitiativen, die vor Ort zu Protesten gegen ein Vorhaben aufrufen, in den Medien Stimmung machen und eventuell die Politik unter Druck setzen, im Fall des Ausbaus der Stromnetze in Bayern zur Zeit sehr erfolgreich. Ob und wie gerade diese Bürgerinitiativen durch frühzeitige Beteiligung von Protesten und auch von Klagen abgehalten und zu einer Konsensfindung bewegt werden können, wurde angesprochen, teilweise aber auch skeptisch beurteilt.
Vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen mit der Evaluation der Bürgerbeteiligung an zwei Fernstraßenprojekten, die ich in den vergangenen zweieinhalb Jahren im Auftrag der Bertelsmann Stiftung vorgenommen habe und zu denen nun ausführliche Berichte vorliegen, habe ich in der Diskussion vor allem zwei strukturelle Probleme der direkten Bürgerbeteiligung angesprochen. Darauf möchte ich in zwei weiteren BLOG Beiträgen näher eingehen.
An dieser Stelle soll nur ein Kritikpunkt an der Richtlinie benannt werden: Bei dem Bemühen, die Ingenieure zu früherer und ausführlicherer Öffentlichkeitsbeteiligung zu motivieren, verspricht sie etwas zu viel. Im Abschnitt "Zielsetzung und Zweck" sind die immer genannten Ziele wie Gewinnung von Vertrauen und Legitimation sowie, Verbesserung der Qualität der Planung zu finden. Kritisch ist die konkrete Wortwahl: Denn da heißt es, dass das dialogische Beteiligungskonzept "das notwendige Vertrauen in Akteure und Prozesse stärkt"; die "Richtlinie hilft somit bei der Vermeidung oder Minimierung technischer und finanzieller Risiken sowie bei Risiken wie Akzeptanzverlust, Image- und Reputationsschäden". Hier steht wohlgemerkt nicht "soll" oder "kann" sondern "stärkt" und "hilft". Die angestrebten Wirkungen mögen in einigen Fällen eintreten, aber selten alle zugleich und gerade bei den zuvor erwähnten Bürgerinitiativen und Protestbürgern liegt die Wahrscheinlichkeit des Vertrauensgewinns deutlich unter 50 Prozent. In den beiden erwähnten Fernstraßenprojekten sind die zu Beginn am Dialog teilnehmenden Bürgerinitiativen fast alle nach wenigen Sitzungen ausgestiegen.
Diese Überschätzung der Wirkungen von Bürgerbeteiligung, man kann auch sagen, die Verwischung zwischen Wunsch und Wirklichkeit, ist auch in der Politik weit verbreitet. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das nicht verwunderlich, wohl aber die Tatsache, dass es kein größeres Interesse daran gibt, die Wirklichkeit verlässlich zur Kenntnis zu bringen und Erwartungen und die Zielerreichung durch eine systematische Evaluation genauer zu überprüfen, um sie eventuell beim nächsten Mal zu korrigieren. In keinem der vorgestellten Projekte wurde eine unabhängige externe Evaluation vorgenommen. Die Richtlinie betont zwar die Notwendigkeit von organisationalem Lernen. Das Stichwort "Evaluation" als Voraussetzung dafür kommt jedoch nicht vor.
Das mag daran liegen, dass die Ergebnisse einer solchen Evaluation liebgewordene Annahmen in Frage stellen oder sogar widerlegen und auf Dilemmata aufmerksam machen, die nicht so einfach überwunden werden können. Zwei solche Dilemmata werde ich in zwei weiteren Kommentaren am Beispiel der erwähnten Fernstraßenprojekte aufzeigen: Den Legitimationsbruch von Beteiligung in mehrstufigen Genehmigungsverfahren und die Asymmetrie zwischen positiven und negativen Betroffenheiten.
Weitere Beiträge zum Thema:
Der Legitimationsbruch bei der Bürgerbeteiligung bei Großprojekten
Die Dominanz negativer Betroffenheit bei lokalen Bürgervoten zu Infrastrukturprojekten
Verzahnung der Öffentlichkeitsbeteiligung mit den Verwaltungsverfahren in Baden-Württemberg